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Fabian Scheidler, Buchautor, Dramaturg und Mitbegründer des unabhängigen Fernsehmagazins Kontext TV, nennt das moderne Weltensystem, das vor etwa 500 Jahren in Europa entstand und sich über den ganzen Planeten ausbreitete, eine gigantische Megamaschine, die Mensch und Natur einer radikalen Ausbeutung unterwirft und deren Zerstörungskraft inzwischen die menschliche Zukunft infrage stellt. Die Anregungen für die Fotos und Texte stammen aus dem Buch „Das Ende der Megamaschine“, in dem Scheidler die Logik der endlosen Geldvermehrung und den Fortschrittsmythos der westlichen Zivilisation entlarvt. Er kommt zu dem Schluss, dass Auswege nur durch tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen möglich sind.

Die angegebenen Zeiträume sind lediglich als grobe Orientierung zu verstehen.

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megamaschine

Wie ein gigantischer stählerner Truck wälzt sich die Megamaschine durch die Welt. Angetrieben von einem unersättlichen Hunger auf Ressourcen und Energie hinterlässt sie eine tiefe Spur der Verwüstung auf unserem Planeten, bis sie eines Tages – unvermeidlich - zum Stillstand kommt.


Zeitraum: ca. 1500 bis heute
 



die macht der metalle

Bereits die Frühgeschichte lieferte einen Vorgeschmack auf die Megamaschine. Nicht zufällig fiel die Entdeckung der Metallgewinnung zusammen mit der Entstehung sozialer Ungleichheit und kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den frühen Städten und Stadtstaaten. Metalle lieferten überlegene Werkzeuge und vor allem Waffen, beendeten die Steinzeit und gaben den Epochen ihre Namen: nach der Bronzezeit folgte die Eisenzeit.

Zeitraum: 3.500 v.Chr. bis 600 n.Chr.

die zerstörung der wälder

Lange vor ihrer Geburtsstunde warf die Megamaschine ihre Schatten voraus. Die Produktion von Holzkohle für den Betrieb der Schmelzöfen zur Eisengewinnung gehörte zu den wichtigsten Ursachen für die radikale Entwaldung des Mittelmeerraums in römischer Zeit mit Folgen bis in die Gegenwart.

Zeitraum: 1.200 v.Chr. bis 600 n.Chr.



die auferstehung des metalls

Das Mittelalter, das durch kleinbäuerliche Strukturen und selbstversorgende Subsistenzwirtschaft geprägt war, wurde vor etwa 500 Jahren durch eine folgenschwere Zeitenwende abgelöst, die als beginnende Neuzeit in die Geschichtsbücher einging und zur Geburtsstunde der metall-beseelten Megamaschine wurde 

Zeitraum: 1500-1600

die neuformierung der macht

 Als Keimzellen für die Megamaschine erwiesen sich die italienischen Stadtstaaten Venedig und Genua, die sich zu kommerziellen und militärischen Machtzentren entwickelten und ganze Staaten in ihre Abhängigkeit brachten. Anders als in der Antike kam es jetzt zu einem Kreislauf der endlosen Geldvermehrung, befeuert durch die neu gegründeten Aktiengesellschaften.

Zeitraum: 1400-1600



heldenmythos

Zahllose Denkmäler auf der ganzen Welt preisen den frühen Protagonisten der Megamaschine Christoph Kolumbus als heldenmutigen Entdecker der „Neuen Welt“. Doch der Seefahrer beschränkt sich nicht auf seine Entdeckungen, sondern hat von Anfang an die Ausbeutung der indigenen Völker im Blick, verbunden mit einem „return of investment“ für die spanische Krone und die italienischen Geldgeber seiner Missionen.


Zeitraum: 1450-1500

nichts ist mehr wie es war

 Das Zeitalter der Megamaschine wird eingeläutet durch die Conquista. Auf der fieberhaften Suche nach Edelmetallen kommt es zu Völkermorden in Mittel- und Südamerika - in einem Gewaltexzess, der seinesgleichen sucht.

Zeitraum: 1500-1600



risse im fundament

Die Kirche half kräftig mit, die Megamaschine weiter anzutreiben. Die oft gewaltsame christliche Missionierung indigener Völker und Kulturen war sogleich das ideologische Fundament als auch die perfekte Rechtfertigung für eine Welle von Eroberungskriegen, die seit der frühen Neuzeit von den europäischen Machtzentren ausgingen.

Zeitraum: 1450-1950

monumente der macht

 Nicht zuletzt durch den Bau gewaltiger und prachtvoller Kathedralen untermauerte die katholische Kirche ihren Machtanspruch, der sich ideal mit den politischen und wirtschaftlichen Strukturen der Megamaschine verbinden ließ und sich vielerorts als Bollwerk gegen das Aufkeimen von Widerstand und Aufruhr erwies.

Zeitraum: 1400-1700



drohkulisse

Immer dann jedoch, wenn sich die Lage zuspitzte und das Überleben der Bevölkerung auf dem Spiel stand, kam es zu lokalen, überregionalen oder gar landesweiten Aufständen gegen Krone, Adel und Kirchenfürsten: ihre Privilegien waren bedroht und die Megamaschine geriet in Gefahr.

Zeitraum: 1400-1700

die entzauberung der welt

 Ein reibungsloser Betrieb der Megamaschine war nur möglich mit einer vollständigen Kontrolle über Land und Leute. Dazu wurden nicht nur Stadt und Land kartiert, sondern am Ende die ganze Gesellschaft, so dass in der Folge die Steuereinnahmen sprudelten.

Zeitraum: 1600-1800



die welt als maschine

Die Megamaschine beherrschte nicht nur das praktische Leben, sondern auch die Weltanschauung. Die Kontrolle über Menschen und Territorien führte zusammen mit den neuartigen technischen Erfindungen zu der Vorstellung, die ganze Welt sei eine Maschine, die vollständig durchschaubar, kontrollierbar und letztlich beherrschbar ist.

Zeitraum: 1600-1650


die erfindung der arbeit

 In den neuen Manufakturen und Fabriken wurde der Arbeiter zu einem austauschbaren Teil der großen Logistik der Megamaschine degradiert. Darüber hinaus war Lohnarbeit hart und beschwerlich. Es ist wohl kein Zufall: Das lateinische Wort für „arbeiten“ heißt „laborare“ und bedeutet ursprünglich so viel wie „unter einer Last schwanken“.

Zeitraum: 1700-1900





die abrichtung der menschen

Als weiteres Kontrollinstrument kam die Disziplinierung der Menschen ins Spiel, nämlich überall dort, wo der Staat Zugriff auf sie hatte, etwa in der Schule oder beim Militär. So sollte das Individuum schließlich zu einem seelenlosen, austauschbaren Element der Megamaschine werden. 

Zeitraum: 1700-1800

filter für das volk

 Mit Geschick bauten die politischen und wirtschaftlichen Eliten in den verschiedensten Bereichen hochwirksame Filter auf: von Filtern in der Verfassung demokratischer Staaten über Filter des Geldes bis hin zu Filtern von Wahlrecht und Bürgerrechten. Diese Filter erschienen nur auf den ersten Blick durchlässig, in der Realität stellten sie für den Großteil der Menschen eine unüberwindliche Hürde für die Teilhabe an der Macht dar.

Zeitraum: 1750-1950



kohle ohne ende

Mit der fossilen Kohle wurde ein neuer Energieträger für den wachsenden Bedarf an Energie entdeckt. Anders als Holz gab es die energiereiche Kohle nur an wenigen Fundorten und musste über große Strecken transportiert werden. Als Kohle betriebenes Transportmittel nahm die Eisenbahn Fahrt auf und zog wiederum die Stahlproduktion nach sich. Es entwickelte sich ein Kohle-Eisen-Kreislauf, der zum  Motor der Megamaschine avancierte.

Zeitraum: 1700-1900

die entfesselung der megamaschine

Der Kohle-Eisenkreislauf verband sich mit dem ebenfalls selbstverstärkenden System der endlosen Geldvermehrung zu genau jener explosiven Mischung, die die Erde in ein neues Zeitalter katapultierte und uns heute eine Krise planetaren Ausmaßes beschert.

Zeitraum: 1700 bis heute



die aufteilung des planeten

Um die Megamaschine in Schwung zu halten, entwickelten sich die europäischen Staaten zu Kolonialmächten. Die Kolonisierung der Völker Afrikas, Asiens sowie Mittel- und Südamerikas hat tiefe Wunden hinterlassen, die bis heute nicht verheilt sind.

Zeitraum: 1500-1950

blütezeit

Neben geopolitischen Interessen der Kolonialmächte bestand der vorrangige Zweck der Kolonialisierung darin, die Rohstoffe aus der Peripherie der Welt nach Europa zu schaffen, um die Megamaschine zu füttern und zum Erblühen zu bringen.

Zeitraum: 1500-1950


belle époque

Während in den Jahrzehnten vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, der sogenanntem Belle Époque, in Europa und den westlichen Staaten durch die Elektrifizierung buchstäblich die Lichter angingen, erlebten die Kolonien die Kehrseite der Megamaschine. So trieb die Kolonialmacht Belgien viele Kongolesen in die Zwangsarbeit, um Kautschuk und Kupfer als wichtige Rohstoffe für die Elektrifizierung zu gewinnen.


Zeitraum: 1800-1900


pulverfass und kriegsmaschine

Die von der Megamaschine befeuerte, sich zuspitzende Konkurrenz der Kolonialmächte um Märkte, Rohstoffe und Einflusssphären war eine der Ursachen für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, ein industriell geführter Krieg mit verheerendem Einsatz von Spreng- und Kampfstoffen, den neuen Errungenschaften der chemischen Industrie.

Zeitraum: 1900-1914



trauma

Mit dem ersten Weltkrieg trat die Megamaschine in ihre surreale, gespenstische Phase ein. Nicht zufällig entstanden in der Kunst Dadaismus und Surrealismus. Der österreichische Schriftsteller Karl Kraus sprach von den „unwirklichen, undenkbaren, keinen wachen Sinn erreichbaren, keiner Erinnerung zugänglichen und nur im blutigen Traum verwahrten Jahren.“

Zeitraum: 1918-1930

die rationalität des bösen

Es wird oft gesagt, der Nationalsozialismus sei etwas Irrationales gewesen, doch in gewisser Hinsicht war er genau das Gegenteil: ein Exzess, ein Durchdrehen genau der Form von Rationalität, auf der die Megamaschine beruhte. Als perfekt funktionierende Zahnrädchen arbeiteten Millionen Menschen auf Hochtouren in einem Getriebe, das von der Produktion von Konsumgütern in kürzester Zeit auf die Produktion von Toten umgestellt wurde.

Zeitraum: 1930-1945



schampus für alle

In der Nachkriegszeit sorgte die Megamaschine nicht nur für ein Wirtschaftswunder, sondern half auch, die Grauen der Vergangenheit zu verdrängen. Das gelang am besten, indem man sich in rastlose Geschäftigkeit stürzte und am Konsum berauschte.

Zeitraum: 1950-1970

tout voiture

Nach dem zweiten Weltkrieg setzten praktisch alle Regierungen von Washington und Paris bis Moskau und Tokio auf eine Strategie des „tout voiture“ („alles Auto“) als neuen Motor für die Megamaschine. Das Auto wurde als Symbol für Freiheit und Unabhängigkeit vermarktet, als Innbild des American Dream.

Zeitraum: 1950-2000



immer höher - schneller - weiter

Die Vorstellung von der Beherrschbarkeit der Welt reicht bis in die Gegenwart. Die Megamaschine hat ganze Arbeit geleistet und lässt uns glauben, dass wir der Natur weit überlegen sind. Doch diese Rechnung wird nicht aufgehen.

Zeitraum: 1950 bis heute

rolle rückwärts

Die Antwort auf die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen durch die 68er Bewegung und die wirtschaftliche Stagnation der Ölkrise Anfang der 1970er Jahre war das große Rollback durch den Neoliberalismus mit dem Ziel, die stotternde Megamaschine wieder anzuwerfen

Zeitraum: 1970 bis heute



strandgut

Die Schatten der Vergangenheit holen uns ein. Der wirtschaftliche Ruin, den die Megamaschine im globalen Süden hinterlassen hat, bringt verzweifelte Menschen dazu, ihr Heimatland zu verlassen und sich auf den gefährlichen Weg nach Europa zu machen. Und Europa? Schließt seine Türen und schickt die Überlebenden zurück. Was bleibt sind Spuren am Strand.

Zeitraum: 2010 bis heute

sackgasse

Die Megamaschine stößt im 21. Jahrhundert auf zwei Grenzen, die in ihrer Kombination letztlich unüberwindlich sind. Die erste Grenze steckt innerhalb des Systems, denn die globale Ökonomie steuert in eine Strukturkrise hinein, kaschiert durch eine stetig wachsende Verschuldung aller Akteure. Das hat zur Folge, dass immer mehr Menschen aus dem ökonomischen System herausfallen, weil ihnen schlichtweg das Geld fehlt. Die zweite und noch wichtigere Grenze befindet sich außerhalb des Systems, es ist die Grenze des Planeten, seiner Ressourcen und seiner Biosphäre - und sie wird, wenn kein Umsteuern geschieht, unweigerlich zum Absturz der Megamaschine führen.

Zeitraum: 2000 bis heute



kulturelle konditionierung

Viel zu wenig stellen wir infrage, dass wir auf Kosten anderer Menschen – vornehmlich im globalen Süden - und auf Kosten unseres Planeten leben. Ob wir wollen oder nicht: Der Blick, mit dem wir heute die Welt betrachten, ist beeinflusst und geprägt durch das jahrhundertelange Wirken der Megamaschine. Und das macht es uns so schwer, sich eine Welt ohne Megamaschine vorzustellen und die Systemfrage zu stellen. Es wird Zeit, die Brille zu wechseln.

Zeitraum: 1950 bis heute

grün ist die hoffnung

Auch wenn die Asphaltdecke, auf der die Megamaschine unterwegs ist, noch so mächtig erscheint, gibt es doch an vielen Stellen lokale Initiativen, Bewegungen und Widerstände, die wie zarte Pflänzchen wirken und doch den Asphalt sprengen können. Es liegt einzig und allein in unserer Hand, ob daraus ein anderer, neuer, grüner Weg entsteht.

Zeitraum: 1980 bis heute